Beim Bergsteigen habe ich sicher mit die schönsten Momente in meinem Leben erlebt. Man kann unfassbare Aussichten genießen, erlebt neue Sachen und fühlt sich einfach frei. Es ist schwer zu beschreiben, wie schön die Berge und der Bergsport sein können. Aber da gibt es auch noch eine andere Seite. Was ist, wenn plötzlich Angst am Grat eintritt, du dich unsicher fühlst, auf einmal in einer Situation bist, welche du nicht erwartet hast und Panik bekommst. Auch das kann in den Bergen passieren bzw. solche Situationen hatte ich auch schon. Heute möchte ich dir an einem Beispiel den Umgang mit kritischen Situationen zeigen.

 

Angst am Berg – Als ich komplett überfordert war

2018 war ich in meinem dritten Tourenjahr und mit einem Bergführer unterwegs. Wir wollten das Obergabelhorn machen – den kompletten Arbengrat. Wir sind um 1 Uhr nachts gestartet und nach circa 3-4 Stunden (keine Ahnung mehr wie lange es wirklich war) waren wir schließlich am Grat. Von hier an waren wir nur noch ausgesetzt. Es ging im Klettergelände mal leichter Mal schwerer hoch. Das war für mich der erste richtig lange Klettergrat. Zuvor war ich eher auf klassischen Hochtouren (Monte Rosa etc.) unterwegs. Es war etwas komplett Neues und es war echt zu viel. Ich habe mich bei der Tour sehr oft gefragt was ich hier eigentlich mache. Oben am Gipfel angekommen dachte ich, da es jetzt nur noch runter geht ist es ja geschafft. Auch hier habe ich mich geirrt. Es ging am Grat runter und dann nochmal hoch. Irgendwann war es aber geschafft.

 

An der Hütte endlich angekommen war ich komplett fertig. Und das nicht mal körperlich, sondern vom Kopf her. Ich habe mich bedrückt gefühlt. Das war aus irgendeinem Grund zu viel. Nach ein wenig Nachdenken, konnte ich nicht mit der Situation am Grat umgehen und mit dem Wissen permanent ausgesetzt zu sein. Was passiert, wenn man abrutscht? Wie lange sind wir hier noch? Diese und weitere Fragen hatte ich mir während der Tour gestellt und wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.

 

Was ich daraus für mich gelernt habe?

Ich habe mehrere Dinge daraus gelernt:

  1. Ich sollte mehr leichte Grattouren machen und dann wieder längere
  2. Neben dem Körper muss ich auch meine mentale Stärke trainieren, um auf sowas vorbereitet zu sein
  3. Auch mit Bergführer sollte man sich besser vorbereiten, sodass man weiß was einen auf der Tour erwartet

Im Folgenden möchte ich dir die Grundsäulen des mentalen Trainings vorstellen, bevor ich dir zeige, wie ich heute an Grattouren herangehe.

 

Die 4 Bereiche der mentalen Einflussbereiche nach Mental fit am Berg

  1. Atmung – Entspannung/Aktivierung
  2. Vorstellung – Situationen/Ziele/Szenarien/Bewegungen
  3. Selbstgespräch – Beeinflussen deiner Gedanken/Gespräche
  4. Aufmerksamkeit – Lenkung unserer Aufmerksamkeit

 

Atmung: Entspannen und Aktivieren

Normalerweise atmen wir automatisch und ohne bewusst daran zu denken. Aber wir können die Atmung auch bewusst steuern und je nach unseren Anforderungen ändern. Der Zusammenhang zwischen unserer Atmung und unserem Befinden ist ziemlich offensichtlich. Wenn wir flach und schnell atmen, so haben wir meistens Angst. Wenn wir hingegen entspannt sind und uns sicher fühlen, atmen wir langsam und tiefer. Den Umstand zur bewussten Steuerung unseres Empfindens wollen wir durch die Atmung nutzen.

 

Einsatzbereiche von Atemübungen

Atemübungen sind für zwei große Bereiche nützlich. Auf der einen Seite zum Entspannen und auf der anderen Seite zum Aktivieren.

Entspannen:

  • Abbau von Angst/Stress z.B. nach einer Schlüsselstelle, Ausrutscher etc.
  • Erholung und Regeneration nach langen Touren mit schweren Passagen
  • Vorbereitung des Einschlafens nach einer anstrengenden Tour oder vor einer Tour (z.B. Tourenhighlight Matterhorn)

Aktivierung:

  • Zur Steigerung deiner Motivation und zum Erschließen von Kraftreserven (Bei langen Touren, Müdigkeit und Erschöpfung)
  • Zur Steigerung der Konzentration, z.B. bei Ablenkung
  • Als Unterstützung der Aufmerksamkeitslenkung

 

Vorstellung: Mit allen Sinnen

Beim Vorstellungstraining lassen wir vor unserem inneren Auge eine Art Film ablaufen. Hier geht man die verschiedenen Situationen z.B. von deiner Tour durch oder die angestrebten Handlungsweisen unter den optimalen Bedingungen. Schon Reinhold Messner meinte, dass man immer in Szenarien denken soll.

Einsatzbereiche von Vorstellungsübungen

  • Vorbereitung auf eine Tour: Vorstellung Routenverlauf
  • Durchspielen von schweren Passagen, Situationen und Abbau von Ängsten
  • Steuern der Emotionen
  • Lernen, Festigen und Optimieren von Bewegungsabläufen

 

Selbstgespräch: Erkennen und Beeinflussen

Wir sprechen permanent mit uns selbst. Das ist ein Fakt. Manchmal bekommen wir nicht mit, was wir mit uns reden. Aus diesem Grund geht es beim Thema Selbstgespräch im ersten Schritt immer um das Erkennen der Selbstgespräche und dann je nach Situation um das Beeinflussen. Hier können wir uns oftmals schon selbst limitieren, aber auf der anderen Seite auch enorm puschen.

Einsatzbereiche von Selbstgesprächen

  • Steigerung der Motivation
  • Handlungsanleitung und Selbstinstruktion
  • Vergegenwärtigung der eigenen Fertigkeiten und Aufbau von Selbstvertrauen
  • Abbau von Ängsten und negativen Gefühlen
  • Lenkung unserer Aufmerksamkeit
  • Kritische Situationen rationalisieren

 

Aufmerksamkeit: Lenkung und Fokus

Hier geht es darum seine Aufmerksamkeit bewusst auf gewisse Dinge zu lenken. Beim Bergsteigen zum Beispiel auf den nächsten Schritt. Bei mir ist es oft so, dass ich im leichteren Gelände nicht meine Aufmerksamkeit auf dem Gehen habe, sondern meine Gedanken irgendwo sind und ich dann leichter stolpere. Das wollen und müssen wir vermeiden. Das ist ein Ziel der Aufmerksamkeitslenkung

Einsatzbereiche von Aufmerksamkeitsübungen

  • Gezielte Konzentration
  • Um die richtige Taktik oder Strategie zu finden
  • Zur Entscheidungsfindung
  • Ausblenden von Störquellen
  • Achtsamkeit erhöhen
  • Bessere Körperwahrnehmung

 

Welche Übungen nutze ich?

Du bekommst hier verschiedene Facetten des mentalen Trainings vorgestellt. Das kann am Anfang alles ein wenig viel wirken. Suche dir eine Art von Einflussbereich aus und starte damit. Ich selbst bin am Berg ein großer Fan der Selbstgesprächsübungen. Ich rede auf Tour teilweise sehr viel mit mir selbst. Die zweite Stellschraube ist bei mir immer über die Atmung. Über diese kann ich entspannen. Gerade vor schweren Touren abends in der Hütte hilft es mir immer um runter zu kommen.

 

Wie ich heute am Grat unterwegs bin

Heute liebe ich Grattouren. Ab und zu denke ich mir immer noch „Was mache ich hier eigentlich?“, aber ich weiß, wie ich damit umgehe. Folgende Dinge habe ich gemacht.

  • Ich habe viele einfache und kürzere Grate gemacht und mich langsam gesteigert
  • Vorbereitung auf den Grat:
    • Ich sammle alle Infos zu dem Grat, sodass ich nicht überrascht werden kann. Ein Schlüssel dazu waren die Bücher vom Topo Verlag, wo Grate und Kletterstellen genau beschrieben werden
    • Durchsprache der Touren mit meinen Tourenpartnern. Wir sprechen ab, wer wann und wie vorgeht, wie wir sichern und wie wir mit Gefahren Situationen umgehen
    • Für mich selbst visualisiere ich vorab den Grat und rede mir gut zu
    • Wenn ich mich an einem Tag nicht gut fühle, mache ich die Tour nicht
  • Bewusstheit, wie ich mit unerwarteten Situationen umgehen kann

 

Buchempfehlung

Mehr als ich in diesem Artikel beschreiben kann gibt es im Buch „Mental stark am Berg*“. Ich habe das Buch schon so oft empfohlen und es ist immer noch das Beste zu diesem Thema für Bergsteiger. In dem Buch sind alle Techniken und Übungen zusammengefasst. Du bekommst die Tools an die Hand gelegt und kannst diese für dich anwenden. Das Buch beinhaltet folgende Themen:

  • Grundlagen des mentalen Trainings
  • Verschiedene Techniken und Werkzeuge
  • Wie du die Techniken trainieren kannst und am Berg nutzt

 

Training nicht nur für den Körper

Das Training für den Körper ist für uns im Bezug aufs Bergsteigen logisch, je höher und schwieriger deine Touren werden, umso wichtiger wird das Training der Psyche. Setze dich mit dem Thema auseinander. Auch wenn du jetzt denkst, ich brauche das nicht. Am Berg selbst bist du lieber vorbereitet. Ich spreche hier aus eigener Erfahrung. Wie ist es bei dir? Warst du schon in Situationen, wo dein Kopf verrückt gespielt hat? Ich freue mich auf dein Kommentar. Ich wünsche dir eine schöne Woche. Bis dann,

Jonathan

*Affiliate Link

2 Comments

  • Valentin
    Posted 15/10/2022

    Der Energiehaushalt unseres Körpers kann unsere mentale Stärke beeinflussen. Ich habe dieses Jahr auf eher Tour gemerkt, dass ich ängstlich wurde, obwohl das Gelände vollkommen in meiner Komfortzone war. Ich hatte einfach zu lange nichts vergessen. Ich hab dann erstmal einen Traubenzucker und einen Riegel gegessen und habe gemerkt, wie schnell das Vertrauen in mich selbst zurück kam.

    • IMG 4656 - Mentales Training - Umgang mit Gefühlen am Berg
      Jonathan
      Posted 03/05/2023

      Auf jeden Fall eine gute Beobachtung. Danke fürs Teilen deiner Eindrücke.

Leave a comment